Der Mythos vom Rudelführer

Tatsache ist: Wir können gar nicht der „Rudelführer“ unserer Hunde sein, weil unsere Hunde nämlich genau wissen, dass wir keine Hunde sind, sondern Menschen. Aber selbst, wenn sie uns als „Rudelmitglieder“ akzeptieren würden, gilt das Konzept des „Rudelführers“, wie es gemeinhin verstanden wird, bei Verhaltensbiologen, Verhaltenstierärzten, Trainern und moderner Verhaltenswissenschaft als längst überholt.

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Sollten wir unseren Hunden als „Führungsperson“ zeigen, wo es langgeht in diesem verwirrenden Leben? Selbstverständlich.

Müssen wir sie deswegen in die Unterwerfung zwingen und dafür sorgen, dass sie uns als „dominante Persönlichkeit“ in ihrem Leben, damit wir ihren natürlichen Instinkt unterdrücken können, unseren Haushalt, unser Leben und die Welt zu dominieren?
Nö.

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Woher die Rudel-Theorie stammt

Das mittlerweile gefährlich missverstandene Konzept der Dominanz und der Rudeltheorie in der Hundewelt stammt aus gesammelten Beobachtungen an nicht verwandten Wölfen in Gefangenschaft in den 1970er Jahren. Die Ergebnisse dieser frühen Studien suggerierten, dass es eine strenge Hierarchie in Wolfsrudeln gäbe, in denen die „Alphas“ (die Anführer) privilegierte Anrechte auf Nahrung, Schlafplätze und weitere Rechte hätten. Die Gruppen-Struktur würde durch massives Drohverhalten oder offenen Aggressionen gewährleistet. Weil man bis zu diesem Zeitpunkt davon ausging, dass Hunde direkt vom Wolf abstammen, wurde ihnen ähnliche Gruppen- und Sozialstrukturen unterstellt. Daraus ergab sich, dass die gewalttätige „Rudel-Dynamik“, die man bei diesen Wölfen beobachtet hatte, auch bei Haushunden bestehen müsste. Und nicht nur das: Man gelangte zu der Überzeugung, dass Hunde-Rudel sich so formierten, dass bestimmte Hunde von dem Wunsch angetrieben waren, an der Spitze der Hierarchie zu stehen und dafür auch ihre Zähne einsetzen würden. Eine Hierarchie innerhalb einer Hundegruppe war laut Volksglaube das Ergebnis von massivem Konkurrenzdenken.

Diese Theorie wurde so populär, dass das gesamte Sozialkonzept nicht nur von Hunden untereinander, sondern auch zwischen Mensch und Hund und wie man Hunde erziehen müsse davon abgeleitet wurde – ganz unabhängig von der (sehr bedeutsamen) Tatsache, dass Hund und Wolf seit über Hunderttausend Jahren voneinander getrennt sind, sich evolutionär vollkommen anders entwickelt und einander nicht einmal organisch noch übereinstimmen.

Harry. Direkter Nachfahre vom Wolf? Eher nicht.

Hunde sind keine Wölfe.  Die Studien an den gefangen Wölfen aus den 1970er Jahren sind seither von eben jenen Forschern widerlegt worden, die damals ihre Schlussfolgerungen veröffentlichten. Denn Wölfe in Gefangenschaft haben gar keine andere Wahl, als in nicht-verwandten Gruppen zusammen zu leben und verhalten sich deshalb völlig anders als die Wölfe, die in so genannten „echten Rudeln“ zusammenleben. (siehe auch:  Wölfisch für Hundehalter: Von Alpha, Dominanz und anderen populären Irrtümern  von Günther Bloch und Elli H. Radinger, Kosmos Verlag)

Foto: Ralf Kistowski

Ein Wolf. Urgroßvater von Harry? Maybe not.
Foto: Ralf Kistowski

Dr. David Mech, der Wolfsexperte und Verhaltenswissenschaftler beim U.S. Geological Survey , der hauptsächlich für diese ursprünglichen Studien verantwortlich war, erklärt heutzutage selber, dass die Unterschiede zwischen dem Verhalten von Wölfen in Gefangenschaft, die er für seine ersten Studien heran nahm,  und dem Verhalten von wildlebenden Wölfen so unterschiedlich sei, dass er die Ergebnisse seiner ursprünglichen Untersuchungen infrage stellt.

Was ist ein echtes „Rudel“?

In neuen Studien wurde festgestellt, dass ein wildlebendes Rudel normalerweise aus Elterntieren und deren Nachkommen besteht. Dieses Rudel überlebt auf ähnliche Weise wie eine Menschenfamilie, in der die Eltern die Führung übernehmen und die Kinder ihnen nachfolgen. Es besteht eine gewisse „Grundharmonie“ – nicht deshalb, weil die Elterntiere diese von ihren Kindern erzwingen, sondern weil die Jungtiere von sich aus den älteren Tieren Achtung und Fügsamkeit anbieten.

Die ursprünglichen Studien waren schon dadurch verzerrt, dass die beobachteten Tiere unter massivem Stress standen. Sie waren gezwungen, auf engem Raum mit fremden, unverwandten Wölfen in einer unnatürlichen Umgebung zu leben, ohne sich davonmachen zu können. Die Wissenschaftler verwendeten in ihren Schlussfolgerungen unabsichtlich ihre persönlichen, menschlichen Interpretationen – dass nämlich Wölfe ständig damit beschäftigt seien, höheren Status über einander zu erreichen. Leider stellte sich niemand die Frage, ob Wölfe tatsächlich grundsätzlich dem – ausgesprochen menschlichen – Konzept des Statusdenkens und Status-Abgebens folgten. Tatsächlich es viel mehr Sinn anzunehmen, dass für diese gefangenen Wölfe die Frage nach „Status“ und Hierarchie von etwas viel Simplerem angetrieben wurde: Dem Bedürfnis nach Sicherheit und Überleben. Wenn man von einem anderen, fremden Wolf ein besonders nahrhaftes Stück Fleisch ergatterte, sicherte dies das eigene Überleben. So, wie manche dieser Wölfe lernten, sich Vorteile dadurch zu sichern, dass sie die anderen bedrohten, lernten wiederum andere zu überleben, indem sie sich unterwarfen und keinen Ärger machten.

Mechs Forscher beobachteten also eine Gruppe dysfunktionaler Wölfe, die Aggression, Drohnungen und Unterwerfungsgesten einsetzten, um in ihrer unnatürlichen, zusammengewürfelten Gefangenen-Gruppe am Leben zu bleiben. Es war kein natürliches Rudel, dessen Struktur auf gegenseitigem Respekt und Unterstützung basiert, sondern auf Drohungen und Gewalt.

Weil die Ergebnisse dieser frühen Studien falsch interpretiert und wichtige Aspekte von „Dominanz“ missverstanden wurden, begannen Hundetrainer leider, diese angeblichen „Tatsachen“ über Wolfsverhalten 1 : 1 auf Hunde und deren Erziehung zu übertragen.

Fazit

Das Konzept der „Rudelführung“, wie es heutzutage in vielen Köpfen festsitzt, weist aus verschiedenen, wichtigen Gründen fundamentale Fehler auf:

  1. Hunde sind keine Wölfe, dementsprechend können wir nicht davon ausgehen, dass sich das Verhalten von Wölfen auf Haushunde übertragen lässt.
  2. Selbst die Wissenschaftler, die diese Studien ursprünglich veröffentlicht haben, haben jene Ergebnisse mittlerweile zurückgenommen.
  3. „Rudel“ im wahren Sinne des Wortes bestehen weder zwischen Mensch und Hund, noch zwischen nicht verwandten Haushunden. Ein echtes, natürliches Rudel besteht aus Elterntieren und deren Nachkommen und funktioniert gewaltlos, indem Unterwerfung und „Folgen“ freiwillig angeboten, anstatt erzwungen wird.
  4. Hunde wissen, dass wir keine Hunde sind, also ist es albern so tun, als wären wir der „Rudelführer“.

Sollen wir unsere Hunde führen? Unbedingt!
Aber ihnen „zu zeigen, wo’s langgeht“ das bedeutet nicht, dass wir sie gewaltsam zu irgendetwas zwingen oder ihnen gewaltsam etwas abgewöhnen, wie die Wölfe in Gefangenschaft aus den überholten, fast 50 Jahre alten Studien. Wenn wir echte Anführer werden wollen, müssen wir sie gewaltlos und ohne Einschüchterung oder Dominierung führen, sondern mit Ruhe, Gelassenheit, Sicherheit und Motivation.

siehe auch: http://www.lumpi4.de/dominanz-hierarchie-und-beziehung/

Ein Bild der Ruhe, der Gelassenheit, Sicherheit und Motivation? Hm.

Ein Bild der Ruhe, der Gelassenheit, Sicherheit und Motivation? Not so much.

2 Kommentare

  1. Klar sind Hunde keine Wölfe, aber es gibt einiges an Gesten und Mimik der Wölfe, das auch Hunde untereinander benutzen. Wenn Menschen diese Sprache gezielt einsetzten, kann das die Verbindung sehr stärken. Hunde wollen nun einmal nicht zugetextet werden.

  2. Ich finde den Beitrag gut und interessant. Für fundierte wissenschaftliche Arbeit oder zumindest Nachprüfbarkeit fehlen leider die Quellen.

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