Hund in Not, und keiner merkt’s

Am Wochenende war ich das erste Mal in meinem langen Leben Zeuge davon, wie man einen Hund trotz bester Absichten und ganz aus Versehen zum Schnapper/Beißer/Menschenanknurrer erzieht.
Ich war bei einer Familie, die vor ein paar Wochen ihren ersten eigenen Hund bekommen hatte. Vater, Mutter und drei sehr niedliche Töchter im Alter von vier, sieben und zehn Jahren, die sich – na klar! – einen Chihuahua wünschten. Denn der sei klein, handlich und praktisch, man könne ihn einfach in eine Tasche stecken und überall hin mit nehmen, lautete die Begründung. Das stimmt zwar: Der Chihuahua ist alles das, aber seine Handlichkeit birgt auch viele Gewahren, vor allem für ihn selbst. Denn Chihuahuas haben keine Ahnung davon,, dass und wie klein sie sind; sie werfen sich mit Löwengebrüll auf jeden größeren Hund, der ihnen komisch vorkommt, sie müssen dringend rechtzeitig lernen, dass sie nicht nur klein, sondern auch verletzlich sind, vor allem, wenn sie sich mit Größeren anlegen oder nicht aufpassen, nicht unter große Pfoten zu kommen. Und sie bellen ziemlich viel (und das in höchsten, schrillen Tönen), was in so manchem Mietshaus zu Problemen führen kann. Und: Sie sind für einen Kinderhaushalt eigentlich ein bisschen zu fragil, sensibel und empfindlich, weil man ihnen die zarten kleinen Glieder ziemlich leicht brechen kann, weil man furchtbar aufpassen muss, nicht auf sie zu treten, weil man darauf achten muss, dass sie im Wellenalter nicht dauernd vom Arm, von Sofas und Betten hopsen, weil sie sich ernsthaft dabei verletzen können.

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Mich hat aber keiner gefragt, deshalb war das Hündchen also bereits eingezogen.

Der Hund sollte der ältesten Tochter gehören, aber gleichzeitig allen. Ein Konzept, das ich nicht so ganz begreife, denn entweder mir gehört etwas und ich bin der Zuständige und der Bestimmer, oder es gehört allen und jeder darf sich einmischen.
Die Familie, in die der sehr kleine Chihuahua landete, ist sozusagen südländisch laut. Sehr laut. Sehr, sehr laut. Was für Nicht-Südländer (den Chihuahua oder meine Wenigkeit) einigermaßen gewöhnungsbedürftig ist.
Der kleine Hund gewöhnte sich nicht so schnell daran, denn er gehört ja nicht zu den tiefenentspannten, sehr gelassenen Rassen, denen Krach ziemlich Wurscht ist. Jedenfalls wollte er in den ersten drei Tagen vor lauter Getöse weder fressen noch trinken, sondern zog sich ständig in seinen Schlafsack zurück, in dem er in den Schlaf der Erschöpften sank. Die Familie machte sich zu recht Sorgen. Also wurde der Hund in die Küche getragen, dort versammelte sich die gesamte Familie um ihn, mischte sein Futter mit Leberwurst, und als der Kleine endlich ein paar Bröckchen nahm, brach die Familie in ein Hurra-Geschrei aus wie auf einem Fußballplatz. Kann man machen, sollte man aber nicht, wenn man einen überforderten jungen Hund zu irgendetwas überreden möchte.
Getragen wird der Hund im Übrigen die ganze Zeit. Immerzu. Ich beobachtete als erstes deutliches Meide-Verhalten, vor allem, wenn die beiden kleineren Mädchen in seine Nähe kommen. Welcher Hund will schon ständig auf den Arm genommen werden? Die Versuchung ist groß, keine Frage: Er ist ja auch unglaublich niedlich, eine Art atmendes Stofftier, und wenn man vier Jahre alt ist, muss man auch erst verstehen, dass ein Hund, der sich sehr freut, wenn man aus dem Kindergarten kommt, trotzdem nicht dauernd herumgetragen werden will. Das Kind war nicht sehr einsichtig (warum auch: Wer läßt sich schon von einer fremden Person gerne etwas sagen, was man aber WILL), bis ich sie auch andauernd auf den Arm nahm, wieder zu Boden ließ, sie wieder hochnahm und dabei umdrehte, mit ihr durch die Wohnung rannte, quietschte, sie wieder herunterließ und gleich wieder hochnahm.
Der Chihuahua hatte seinen Schlafplatz im Zimmer der ältesten Tochter, und ein Deckchen auf dem Sofa. Dort schläft er tagsüber, denn dort hält sich die Familie meistens auf. Nun waren da viele fremde Leute, ich, die Kinder waren aufgeregt, laut und wollten ein bißchen angeben, die Kleinste legte sich zu dem Hund un piesackte ihn ein bisschen mit ihrem Haarreif (worauf er knurrte), die Mutter setzte sich dazu und streichelte ihn, die Schwester nahm ihn hoch und setzte ihn wieder herunter, und dann setzte sich der Vater hin und streichelte den Kleinen – und wurde angeknurrt.
Herrje. Der Vater war furchtbar unglücklich, bis ich erklärte, dass der Hund sich einfach nicht zuhelfen wußte. Er wurde ständig belämmert, nie in Ruhe gelassen, selbst, wenn eine Person sich zusammenriss, fummelte irgendwer anders an ihm herum. Er hatte keine Rückzugsmöglichkeit, denn ein junger Hund geht nicht wie ein erwachsener Hund in ein anderes Zimmer, wenn er genug vom Trubel hat, sondern will bei seiner Familie bleiben. Also erklärte ich der Familie, dass sie unbedingt eine Schlafbox im Wohnzimmer aufstellen müssten, in der der Kleine seine Tabu-Zone eingerichtet bekäme: Wenn er dort drin sei, dürfe niemand an ihn heran. Die Box sei his home, his castle. Nach mehreren „Ja, aber“s war man auch einsichtig. Auch, dass der Hund nicht ständig auf den Arm genommen werden dürfe, weil er nämlich vier Beine habe und einfach nichts dafür könne, dass er so klein und handlich sei.

Ich weiß nicht, ob es gefruchtet hat, was ich sagte. Ich bin absolut sicher, dass dieser Hund irgendwann zubeißt, wenn die Familie ihre Umgangsformen nicht sofort ändert, weil er sich nicht anders zu helfen weiß: Er hat zwar viel Ruhe, wenn die Kinder im Kindergarten bzw. in der Schule sind, aber wenn die Familie da ist, verhalten sich ihm gegenüber alle übergriffig. Er ist noch keine sechs Monate alt – bis jetzt also knurrt er nur oder schnappt mal kurz. Aber wenn er ein größerer Hund wäre, wäre sich die Familie schon bewusster, dass sich ein Problem anbahnt, das sie jetzt noch nicht wahrhaben wollen.

Auch Hunde haben ein Recht auf Rückzug und Ruhe – zumal „Familienhund“ ein wirklich sehr harter Job ist. Man muss dem Hund einen Platz einräumen, an/in dem er seine Ruhe hat, die absolut off-limits für alle Kinder der Familie ist: Wenn er gestreichelt werden möchte und Ansprache sucht, kann er ja kommen und sich darum bemühen. Ansonsten lässt man ihn in Frieden. Massives Meideverhalten – ein Hund, der zurückweicht, wenn man auch ihn zu kommt, der der Hand ausweicht und/oder nicht reagieren will und stattdessen wegsieht, wenn man ihm liebevoll das Gesicht oder die Hände hinstreckt – im Alter von fünf, sechs Monaten ist kein gutes Zeichen.

Aber genau dieses sind die Fälle, die – wenn nicht gerade eine Gouvernante in Form von KvdL oder irgendwem sonst auftaucht – später abgegeben werden, weil sie keine Kinder mehr mögen, oder knurren und beißen, wenn man sich neben sie aufs Sofa setzt, oder nach Händen schnappen: Weil sie gelernt haben, dass sie wenigstens dann in Frieden gelassen werden.

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