Kindchenschema

Meine sechsjährige Patentochter Sophie wünscht sich einen Hund. Ihre Eltern schenken ihr deshalb ein Aquarium. Ich finde ja, Fische sind mit Hunden nicht zu vergleichen. Nicht nur, weil ich noch keinen Fisch getroffen habe, der apportieren lernen kann, sondern weil sie eine geradezu absurd hohe Sterblichkeitsrate haben. Grundsätzlich bin ich unbedingt dafür, dass Kinder Haustiere haben. Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und erfahren einen wichtigen Teil des Lebens: Dessen Endlichkeit nämlich. Sie lernen, dass Lieben auch Loslassen heißt. Wenn sie das mit den Fischen allerdings eine Weile gemacht haben, könnte der Eindruck entstehen, dass Loslassen bedeutet, den Verstorbenen im Klo herunterzuspülen.

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Als Kind hatte ich auch mal Fische. Das war, bevor meine Eltern mir einen eigenen Hund erlaubten, weil sie wahrscheinlich verhindern wollten, dass ich eines Tages eine von diesen Frauen würde, die mit vier oder mehr Hunden das Leben teilen und darüber Bücher schreiben.

Meine Fische jedenfalls, die ich liebevoll Fred (orange) und Harriet (schwarz) getauft hatte, lebten nie lange. Meine Eltern versuchten, die schwache Konstitution der Fische zu verbergen, indem sie sie heimlich austauschten. Wenn sie mit dem Bauch nach oben im Aquarium schwammen, behauptete meine Mutter, dass wäre die Art, wie Fische Mittagschlafen, und brachte auf dem Weg vom Büro nach Hause heimlich eine neue Harriet mit oder einen neuen Fred. Ich kam ihnen lange nicht auf die Schliche, bis meine Mutter sich eines Tages vertat und plötzlich zwei Freds im Glas schwammen, und keine Harriet mehr. Danach verlor ich meinen Glauben an Erwachsene. Auch dafür sind Haustiere wichtig.

Weil ich in meinem Umfeld prinzipiell für alles zuständig bin, was mit Tieren zu tun hat, selbst wenn es um Silberfischchen geht, wurde ich gebeten, das Aquarium für Sophie zu besorgen.  Ich füllte es mit speziellem Wasser und speziellen Wasserpflanzen und speziellen Unterwassermöbeln, damit die Fische genügend intellektuellen Stimulus hatten. Dann ging ich Fische kaufen. Meine Auswahlkriterien waren einfach, es sollten a) Fische mit Durchhaltevermögen sein und b) sehr viele von ihrer Art geben, falls sie aus ihrem Mittagsschlaf einmal nicht mehr aufwachen sollten.

Ich ahnte nicht, wie ungeheuer komplex die Fischgemeinschaft ist. Alles, was sich bei Hunden mit ein bisschen Erziehung lösen lässt, ist bei Fischen gleich eine Sache auf Leben und Tod. Fische besitzen fast ausnahmslos ein hohes Agressionspotential, das jederzeit explodieren kann, wenn einer eine falsche Farbe hat, oder zuwenig Weibchen dabei sind, oder zu viele (bei Fischen ist es sehr schwer, das jeweilige Geschlecht herauszufinden). Wie sich herausstellte, sind Aquarien die reinsten Pulverfässer, in denen jederzeit Gewalt ausbrechen kann, wie im Mittleren Osten oder an heutigen Schulen.

Nach langer Beratung fand ich schließlich drei pazifistische Fische, so friedlich, dass man aufpassen muss, dass sie nicht dauernd von irgendwelchen Aquariumwürmern verprügelt werden. Es wäre bedeutend einfacher gewesen, den passenden Hund für Sophie zu finden.

Ich kenne eine Menge Kinder, die sich Hunde wünschen, aber keine bekommen, weil ihre Eltern sich vor der Verantwortung scheuen. Ich vermute auch, dass der Grund, warum ich so unglaublich viele Patenkinder habe (als ich das letzte Mal nachzählte, waren es sechzehn) ausschließlich mit meinen Hunden zu tun hat. Die Eltern hoffen wohl, den zweifellos irgendwann auftauchenden Wunsch ihrer Kinder nach einem Hund damit verschieben (wenn nicht vollständig aushebeln) zu können, dass sie ihnen wenigstens eine Patentante mit Hunden verschafft haben.

Jedenfalls bin ich aufgrund meines Hundereichtums bei meinen Patenkindern ausgesprochen beliebt. Sie sind hundetechnisch alle hervorragend sozialisiert, können schon im Alter von fünf Monaten verschiedene Hundespielsachen geschmacklich wie auch visuell unterscheiden, lassen sich bei dem Kommando „Sitz!“ sofort auf ihren Windelpo fallen und gehen gewöhnlich ein Leben lang gut bei Fuß. Und sie hören nicht auf, ihren Eltern bis zum Abitur wegen eines eigenen Hundes in den Ohren zu liegen, mit  hieb- und stichfesten Argumenten, die ihnen von ihrer Patentante eingeflüstert werden.

Manche Eltern schenken ihren Kindern als eine Art warmblütiges Zugeständnis anstelle eines Hundes auch ein Kaninchen oder Meerschweinchen. Das zeigt auch nur, wie wenig Eltern von Kindern verstehen: Nicht nur sind Nager diffizile Haustiere mit hohen Haltungsansprüchen (sie können im Gegensatz zum Hund aus Protest nur nicht laut heulen oder auf den Teppich kotzen  – dafür sind sie sehr geschickt im Abnagen von Tapeten): Es ist auch einfach nicht dasselbe, mit einem widerspenstigen Kaninchen im Geschirr spazieren zu gehen, als mit dem eigenen Hund in den Sonnenuntergang zu schlendern. Ich kenne auch kein Meerschweinchen – nicht einmal im Film -, das je Hilfe geholt hätte, wenn sein Herrchen im Treibsand zu versinken drohte. Aber jedes Kind kennt nun einmal Lassie.

Ich persönlich habe das Hunde-Ersatz-Thema gelöst, indem ich mein Zimmer bis unter die Decke voll stellte mit Kaninchen, Meerschweinchen, Hamstern, Wellensittichen, Streifenhörnchen, Kanarienvögeln, Wasserschildkröten und allem anderen Getier, das sich irgendwie in mein Zimmer transportieren ließ. Irgendwann gab meine Familie auf, und ich bekam meinen eigenen Hund. Sie hätten sich viele Zentner Sägespäne, kilometerweise Hasendraht und Kaninchenköttel auf wertvollen Teppichen sparen können. An den Beinen der antiken spanischen Möbel meiner Eltern lassen sich bis heute Nagerschäden als Spuren meiner Kindheit ablesen.

Sie hätten es einfacher haben können. Aber Eltern hören ja nie auf ihre Kinder.

Kolumne aus: DOGS 4/2013

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