Nun ist also Adventszeit – eine Zeit der Besinnlichkeit, eine spirituelle Zeit, gleichzeitig aber auch eine schwierige Zeit, in der wir alle – und damit meine ich auch Sie – unaufhaltsam zunehmen, weil wir praktisch rund um die Uhr zu essen, sozusagen bis zur Besinnungslosigkeit, und uns nie darauf besinnen, uns zum Ausgleich mehr zu bewegen. Geht auch schlecht, wenn der Magen immer so voll ist: Hier ein Zimtstern, da ein Stück Stollen, auf dem Weg nach Hause gehen wir über den Weihnachtsmarkt und essen noch schnell eine Vorweihnachtsbratwurst und ein paar gebrannte Mandeln, die wir mit Punsch herunterspülen, bevor wir uns zuhause an die Weihnachtsbäckerei machen. Selbst mein Italienisches Windspiel Harry hat unübersehbar zugenommen. Sah er im Sommer noch aus wie ein Windhauch, erinnert er jetzt nach Konsum zerbröselter Kekse, Mandeln und Butterflöckchen, die beim Backen auf den Boden fallen, von oben eher an ein rundes Seehundbaby. Das macht doch nichts – so eine Speckschicht hält warm“, meinte eine Freundin, die ihrerseits auch so aussieht, als wäre ihr nur ganz selten kalt. Die meisten von uns tragen Fettdepots mit sich herum, die uns an jedes Snickers, jeden Negerkuß, jedes Stück Baumkuchen und jede heiße Maroni zu erinnern, die wir je in unserem Leben konsumiert haben. Jedes Gummibärchen, jede Blätterkrokant-Kugel, jedes einzelne Stück Lindor-Schokolade. Der Körper ist fest überzeugt, dass wir das alles irgendwann brauchen werden, und dass das einzige, was uns vor dem Hungertod schützen kann, die Fettpolster aus den Quality Streets sind, die wir mit sieben von unserer Großmutter bekamen. Das ist natürlich idiotisch: Heutzutage gibt es Kühlschränke. Es ist nicht mehr nötig, den menschlichen Hintern als Versorgungslager zu verwenden. Oder Harrys Taille. Aber der Körper weiß nichts von moderner Technik. Stattdessen sieht man eines Tages in den Spiegel und stellt fest, dass die Körperzellen jegliche Disziplin aufgegeben haben und die Oberschenkel aussehen wie Fotos einer Mondlandschaft von oben. Oder das zarte graue Windspiel wie ein Babywalfisch.
Früher war man mit 40 tot. Dank moderner Medizin, Diät-Limos und Nasensprays muss man heutzutage stattdessen noch viele weitere Jahre mit Spiegeln im Haus überleben (man könnte glatt auf die Idee kommen, früher wäre alles besser gewesen). Es gibt dabei Einiges, was man tun kann, um den Körper noch jahrelang jugendlich straff aussehen zu lassen. Jedenfalls, sofern man willens ist, sich einem strengen Regime regelmäßigen Sports zu unterwerfen, medizinischer Überwachung, und dem kompletten Verzicht auf Koffein, Alkohol und absolut allem, was nach irgendetwas schmeckt. Stattdessen darf man Wasser, Algensalat, gedünstetes Huhn (ohne Salz) und fettfreie Karottenschnipsel konsumieren.
Was in etwa der Speiseplan ist, der Harry vorliegt, und er hasst mich dafür. Er ist ein fabelhaftes Beispiel dafür, das männliche Wesen mit Hunger völlig unbrauchbar sind: ein Mann mit Hunger ist eine tickende Zeitbombe. Harry ist entsetzlich gelaunt, schiebt den gesamten Tag seinen Futternapf durch die Wohnung und starrt die anderen Hunde an – ich bin nicht sicher, ob aus Eifersucht, oder weil er kannibalistische Neigungen entwickelt hat. Beim Spaziergang rennt er von Papierkorb zu Papierkorb auf der Suche nach Essbarem. Hätte er das Konzept der Pfandflaschen verstanden, würde er sie umgehend in Frikadellenbrötchen umwandeln lassen. Sogar seine Ängstlichkeit gegenüber fremden Leuten hat sich gelegt: Gestern trafen wir eine Frau, die im Park ein Croissant verspeiste. Ich konnte Harry nur knapp daran hindern, ihr einen Stapel Adoptionspapiere unterzujubeln.
Ich fürchte, er wird es mir nicht einmal danken: Hunden ist es egal, wie sie aussehen. Ich rechne jeden Moment mit einer Anzeige bei PETA. Wenn sie anonym ist, weiß ich: Dahinter steckte ein graues Seehundbaby.