Brief an Harry

Harry

Lieber Harry,

Du bist jetzt sieben Jahre alt. Ein kleines, schickes, blau-weißes Windspiel, um dessen Sichtbarkeit seiner Taille ich seit Jahren kämpfe. Star aller Kleinkinder, Traum aller Leute, die mit Hunden eigentlich nichts anfangen können, weil Du so un-hündisch bist, Alptraum aller Radfahrer im Wald, denen Du mit lautem Gebrüll folgst, wenn man Dich läßt, weil Du findest, Radler und Autos gehören auf die Straße.

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Wir haben viel erlebt in diesen letzten sieben Jahren – wahrscheinlich habe ich durch Dich mehr über Hunde gelernt, wie durch ein ganzes Dutzend aller anderen nicht. Man lernt eben immer von den Schwierigen am meisten – und schwierig warst Du, meine Güte. Ein winziges kleines Ding, als Du hier ankamst, Du sahst aus wie eine Mischung aus Vogel und Persekop, das schlotternd zusammenbrach, wenn draußen auf der Straße ein Kind lachte, und unter sich kotete, wenn ein Handwerker ins Haus kam. Ein Jahr hast Du gebraucht, bis Du ohne Panik die Treppe hinunter gegangen bist (ein Jahr lang: Erst ein Stufe, dann zwei – und sobald Du Angst bekamst, gingen wir zurück in die Wohnung. Am nächsten Tag: Eine Stufe, zwei, drei – und dann kam Angst, wir gingen zurück in die Wohnung. Am nächsten Tag wieder eine Stufe mehr. Und weil ich im dritten Stock wohnte, dauerte es eben seine Zeit). Ich habe die Studenten aus der Nachbarwohnung bezahlt, um einmal am Tag wortlos in die Wohnung zu kommen, einmal um den Esstisch herumzulaufen und – ohne Dich eines Blickes zu würdigen – wieder hinauszugehen, damit Du lernst, dass Fremde nicht darauf aus waren, Dich zu vernichten. Mein Liebster durfte keine Actionfilme mehr sehen (aufregende Musik, Schießgeräusche und Explosionen waren ein absolutes No-Go), sondern nur noch Elvis – und Liebesfilme. Überhaupt spielte Elvis eine große Rolle in Deiner Sozialisierung: Seine Musik beruhigte Dich, schien mir – oder sie beruhigte mich, und das war auch gut. Denn Du hast mich zwischendurch wirklich zur Verzweiflung gebracht. Ic weiß noch, wie ich irgendwann nach einem halben Jahr, als sich einfach gar keine Erfolge einstellen wollten, heulend am Telefon zu meinem Freund sagte: „Wieso passiert das eigentlich mir? Ich suche mir Hunde immer so genau aus, ich tue wirklich alles, damit Hunde es bei mir gut haben und stark werden. Wieso bekomme gerade ich so einen Hund?“ Worauf er sagte: „Wo hätte er denn sonst landen sollen? Der kann doch nur zu Dir.“

Irgendwann wurde es besser. Ich ging nie in der Stadt mit Dir spazieren – Du kamst auf zu irrsinnige Ideen: Wenn wir über eine Brücke gingen und uns ein Lastwagen entgegen kam, und Du aus dem Augenwinkel einen Fahrradfahrer sahst – dann hattest Du am nächsten Tag vor allen Brücken, allen Lastern und allen Radfahrern Angst. Also bekamst Du ein hübsches Hundeklo auf dem Balkon eingerichtet, und wir fuhren jeden Tag in den Wald. Bis dorthin hocktest Du unter dem Autositz, weil Du den Verkehr nicht ertragen konntest. Im Wald aber ging es Dir gut: Je weniger Reize, desto besser. Zweimal wurdest Du von fremden, dunklen Hunden gehetzt, woraufhin Du verschwandest und ich tagelang im Wald übernachtete, bis Du wieder auftauchtest. „Wieso stellst Du nicht einfach das Auto offen in den Wald?“ fragte mein Vater, ein alter Jäger, denn so macht man das mit Jagdhunden, die auf Spursuche verloren gehen. „Weil wir in Berlin sind“, erklärte ich ihm. „Wenn ich das Auto offen im Wald stehen lasse, ist am nächsten Tag nicht nur der Hund weg, sondern auch das Auto.“

Aber irgendwann ging es. Never mind, dass Deine Stubenreinheit ewig dauerte, weil Du einfach nicht aufs Klo gingst, wenn draußen komische Geräusche waren: Trecker z.B. Oder Kühe, die sich Dir noch nicht vorgestellte hatten. Oder Stimmen. Oder – Gott bewahre! – Martinshorn, Feuerwerk, laute Musik. Manchmal war es schwer auseinanderzuhalten, ob es nun die Furcht war, die Dich ins Haus pieseln ließ, oder die Bequemlichkeit: Plötzlich machtest Du auch ins Haus, wenn es draußen kalt war. Oder naß. Oder so.

Dass Du ein gräßlicher Mörder bist, wissen nur wenige. Du bist ein Windhund im fürchterlichsten Sinne – Sehen und Reagieren ist bei Dir dasselbe. An Deinem Gürtel baumelt so einiges an Kleinvieh, aber ich verrate Dich nicht. Du siehst so hinreißend, zart und unschuldig aus – lassen wir den anderen ihre Illusionen. Gleichzeitig, weil ich so unglaublich intensiv mit Dir gearbeitet habe, hast Du den besten Rückruf der Welt. Du bist überhaupt fabelhaft erzogen, kannst viele Kunststücke (war ein guter Trick, um Dir aufwändige Aufgaben in Anwesenheit von fremden Leuten aufzugeben), und Du bist wunderbar mit kleinen Kindern. Die winzigen, die, die eigentlich Angst haben vor Hunden lieben Dich, weil Du selbst so zart und schüchtern aussiehst und immer sitzen bleibst, nie von alleine auf Kinder zugehst (außer, sie haben ein Leberwurstbrot in der Hand. Kein Hund auf der ganzen Welt ist so verfressen wie Du). Bei unserem ehrenamtlichen Job in einer Kita für – na, nennen wir sie: unsozialisierte – Kinder bist Du fantastisch, weil Du mit den ganz Ängstlichen, Scheuen, Schüchternen in einer Ecke sitzt und Dich streicheln lässt, bis Dein Fell raucht.

Du bist eine wunderbare Wärmflasche – mit keinem Hund, Kind oder Mann schläft es sich so leicht in einem Bett, wie mit Dir (mal abgesehen von Deinen nächtlichen Liebesanfällen, wenn Dir gegen halb drei plötzlich einfällt, dass es überhaupt nichts Tolleres gibt als mich, und mich mit müffeligen Hundeküssen bedenkst. Vielleicht hast Du ja auch Albträume und bist einfach froh, dass Du nach dem Aufwachen nicht alleine bist). Du bist der perfekte Besuchshund zum Nachmittagstee – setzt Dich artig und elegant auf irgendein Sofa und machst auf elegant-distanziert und hoffst, dass kleine Canapées für Dich abfallen (wenn man es vergißt, hilfst Du Dir auch mal selbst zu einem Stück Torte oder einem halben Pfund Pralinen, während Gastgeber und Gäste auf dem Klo sind oder das neue Baby bewundern). Du kaschierst Deine Ablehnung Fremden gegenüber durch vermeintlich vornehme Zurückhaltung, so dass eigentlich kaum noch jemand merkt, dass Du ein bisschen anders bist, als die anderen Kinder – ein bisschen kapriziös eben.

Du bist ein wunderbarer, sehr zärtlicher, sehr, sehr amüsanter Hund. Du hast einen sehr speziellen Sinn für Humor, Du nimmst die Welt und ihre Unbill mittlerweile in allen Facetten hin, weil Du mir so unbedingt vertraust – was eine große Ehre ist, weil Vertrauen nicht gerade zu Deinen grundsätzlichen Eigenschaften gehört. Du bist in allen Lebenslagen der Meinung, in meiner Nähe könne Dir nichts passieren, dass alles, was ich anordne, schon in Ordnung gehen wird – deshalb gehst Du sogar mit fremden Leuten an der Leine mit, wenn ich das so will, weil sich irgendwelche Zweijährigen dann toll fühlen, wenn sie Dein Band halten dürfen, oder es eben manchmal sein muss, dass die Hundesitterin Euch „entführt“. Du findest das nicht super, nimmst es aber hin. (Dafür nehme ich es ja auch hin, dass Du manchmal öfter aufs Klo musst, als ein acht Wochen alter Welpe, dass Du mich in Hotels grundsätzlich zwingst, mitten in der Nacht noch einmal mit Dir verschlafen im Nachthemd durch die stillen Flure zu gehen, weil Dir eingefallen ist, was Du auf der letzten Gute-Nacht-Runde vergessen hattest.)

Du bist kein leichter Hund, aber darum passt Du ja auch so gut zu mir (wenigstens bist Du nicht rechthaberisch). Und auch, wenn ich Dich in den letzten sieben Jahren ab und zu zum Teufel gewünscht habe, bin ich sehr froh, dass Du stattdessen an meiner Seite bist.

Auf die nächsten sieben, acht, zehn, zwölf Jahre, kleiner Teufel.

Harry & friends

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