Hund ist weg

aus: dogs_klein 3/2010
Manchmal gehen Hunde verloren. Sie laufen weg, weil sie jagen, weil sie unverbesserliche Gartenzaunstürmer sind oder sich zu Tode erschrecken und dann kopf- und orientierungslos auf- und davon rennen. Wieder andere vergessen alles, weil sie einer läufigen Hündin folgen, manche gehen in Getümmel unter, und man findet sie einfach nicht wieder. Der Hundebesitzer bleibt in Angst und Schrecken zurück und muss dabei doch einen kühlen Kopf bewahren, um handlungsfähig zu bleiben.
Mein Italienisches Windspiel Harry verschwand gleich zweimal. Beim ersten Mal wurde er im Oktober von einem riesigen Dobermann gehetzt, dessen Besitzer 150 Meter entfernt war und sich auf mein Rufen hin, er möge seinen Hund doch zu sich rufen, nicht einmal umdrehte. Der Hund hatte wahrscheinlich ganz spielerische Absichten, als er mit seinen ca. 35 kg auf Harry und meine braune Pudelin Ida zuschoß – nur nahmen meine Hunde ihm das nicht ab und dachten, sie müssten um ihr Leben rennen. Ida gelang ein Bogen und kam durchs Unterholz zu mir zurück, Harry raste in gerader Linie in Richtung Horizont – und verschwand.

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Die Angst, einen in solchen Fällen packt, ist kalt, gemein und kaum bezwingbar, die Schreckensbilder, die man sich ausmalt, unbeschreiblich. Natürlich ist Harry gechipt und bei TASSO registriert – was nützt das aber bei einem Hund, der sich von Fremden nicht anfassen lässt? Ich suchte Harry von fünf Uhr nachmittags bis zwei Uhr nachts. Ich rief bei Tasso und der Polizei an und verständigte alle Tierheime und Tierkliniken. Der liebenswürdige diensthabende Polizist bei der berittenen Polizei im Grunewald versicherte mir, zu 98% würden alle verloren gegangenen Hunde wieder auftauchen – aber was, wenn Harry zu den 2% gehörte? Am folgenden Morgen hängte ich überall Suchplakate mit einem großen, sehr deutlichen farbigen Bild von Harry auf: Niemandem war ein kleines Windspiel im roten Pullover aufgefallen. In der ersten Nacht gab es einen fürchterlichen Temperatureinbruch von milden fünfzehn auf fünf Grad, was auch nicht wirklich zu meiner Beruhigung beitrug. Schließlich hängte ich Harrys Suchplakate in weiteren Auslaufgebieten auf, weil viele Hundbesitzer aus Abwechslungsgründen immer mal Spaziergangsrouten ändern, und zuviel Information hat doch noch nie geschadet. Am dritten Tag bekam ich mittags einen Anruf: Eine Dame hatte ihn an einer fast 10 km entfernt von der Stelle gesehen, wo er weggelaufen war – dort nämlich, wo wir normalerweise spazieren gingen, in der Straße, wo ich gewöhnlich parkte. Meinen Suchzettel hatte sie allerdings erst zwanzig Minuten später an einem Baum gefunden, mich daraufhin aber gleich angerufen.
Noch nie in meinem Leben war mir der Weg so weit vorgekommen, noch nie war es mir so egal gewesen, dass ich viel zu schnell fuhr. Wenn Harry versucht hatte, mein Auto an unserer normalen Spazier-Route zu finden, lief er vielleicht unsere üblichen Strecke ab – und so war es auch. Ich rief und pfiff – und plötzlich stand Harry auf dem Weg, ein bisschen unsicher, aber sichtbar erleichtert und froh, mit zersaustem Pullover, weil er offenbar dauernd im Unterholz hängen geblieben war, aber bis auf ein paar Kratzer unversehrt. Abgenommen hatte er, aber er brauchte nicht lange, um das wieder aufzuholen – nachdem er erst einmal völlig erschöpft zwölf Stunden durchgeschlafen hatte.
So unterschiedlich wie die Hunde sind auch ihre Gründe dafür – und dennoch gibt es Dinge, die sich bei 98% aller weggelaufenen Hunde wiederholen und die dem Menschen sehr helfen können, ihren Hund möglichst schnell wieder zu bekommen: Fast immer kehren Hunde zu dem Ort zurück, an dem sie weggelaufen sind, häufig sogar mehrfach. Dementsprechend sollten Sie sich wirklich mit Ruhe und Geduld mindestens 36 Stunden lang an die Stelle setzen, an der er weggelaufen ist (wenn Jäger im Wald ihre Hunde verlieren – was ziemlich häufig vorkommt -, lassen sie gewöhnlich an dieser Stelle entweder ihren Mantel liegen, oder ihr Auto mit offener Klappe stehen – und am nächsten Tag sitzt der Hund meistens drin. Heutzutage kann man das Auto nur selten unbeobachtet stehen lassen: Dann ist am nächsten Tag nicht nur der Hund, sondern auch noch das Auto weg). Hunde, die aufgrund eines fürchterlichen Schrecks weggelaufen sind, werden häufig sehr scheu, lassen sich nicht mehr anfassen und bewegen sich oft nur nachts oder in der Dämmerung und legen sich irgendwo hin, wenn es hell wird. Je länger er alleine herumläuft, desto geregelter wird sein Vagabundenleben, und man wird bei möglichen Sichtungen gewisse Regelmäßigkeiten feststellen können. Harry wurde ein halbes Jahr später ein zweites Mal an einer ganz anderen Stelle von einem Hund gehetzt und verschwand. Er wurde an zwei Morgenden hintereinander morgens um halb fünf wiederum in etwa an der Stelle gesehen, an der ich gewöhnlich parke. Tagsüber versteckte er sich, weil zu viele „Feinde“ wie fremde Menschen und Hunde unterwegs waren. Sein Versteck im nahegelegenen Wald verließ er in unregelmäßigen Abständen, so dass er immer wieder mal gesehen wurde, wobei er sich aber fremden Menschen nie näherte. Weil ich aber die gesamte Umgebung in einem Umkreis von 15km mit seinem Konterfei gepflastert hatte, wurde ich immer wieder angerufen: Hundebesitzer sehen sich diese Plakate an, weil jeder mitfühlen kann, was es heißt, wenn ein Hund verloren geht, und entsprechend die Augen aufhält.
Vor allem stellt sich immer wieder heraus: Hunde sind viel härter im Nehmen, als wir es ihnen zutrauen. Sie können da draußen überleben, auch wenn wir es kaum glauben können: Sie können Mäuse, Pferdeäpfel oder Regenwürmer fressen; sie finden alte Pausenbrote, Reste von Wochenmärkten, Müll oder Katzenfutter, Grillreste oder Aas: Der Überlebenstrieb von Hunden ist sehr ausgeprägt. Sie machen Dinge, die wir uns gar nicht vorstellen können. Ein Rauhaardackel, der vor Berlin auf Jagd ging, überlebte vier Monate im Feld, bis er endlich gefunden wurde: Dünn zwar, aber eigentlich recht zufrieden mit sich. Harry, der Zitteraal, der zuhause bei jedem kleinsten „Piffpaff“ in Panik ausbricht, überstand im Freien das entsetzlichste Gewitter, dass ich je erlebt habe – der Wind toste, der Regen peitschte herunter, Äste brachen über meinem Kopf -, ohne irgendwelche Anzeichen von Traumata, als ich ihn endlich wieder fand. Nach ein paar Tagen, als ich endlich einfach an der Stelle blieb, an der er wiederholt gesehen worden war, und in meinem Auto schlief -, sah ich ihn weit entfernt im Spargelfeld: Mittlerweile so scheu, dass er zwar kurz zögerte, als er mein Rufen hörte, aber doch weglief. Im dem Moment aber, aller er wieder in Sicherheit war – d.h. die anderen Hunde und mich erkannt und tatsächlich neben uns stand – war er genau wie vorher, fröhlich, frech, sprang an uns allen hoch vor Glück – und war dann sehr müde.

Seither ist Harry verkabelt: Er trägt einen kleinen GPS-Sender am Halsband. Nicht, weil ich ihm nicht traue: Er hat gelernt, im Falle von „Gefahr in Verzug“ – echt oder gefühlt spielt bei Angst ja keine Rolle – sofort zu mir zu kommen, und ich habe gelernt, ohne Rücksicht auf andere Besitzer ihre Hunde einfach wegzuschubsen, wenn sie Harry bedrängen. Aber bei manchen Hunden ist Vorsicht einfach besser als schlaflose Nächte. Und Harry gehört dazu.

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