Wie Ida zu uns kam:

aus: „Dogs in the City“, Kosmos Verlag, 2009
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Ida hopste sozusagen zufällig in mein Leben.
Ich besuchte aus rein freundschaftlichen Gründen ihre
Züchterin, Karin, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Pudel und
Meerschweinchenzucht. Als ich Karin kennenlernte, hielt
ich sie für ziemlich unfreundlich. Sie bellte ein „Ja!“ ins Telefon,
das dem Anrufer erst einmal die Sprache verschlug. „Na,
sonst rufen mich alle möglichen Leute um sechs Uhr morgens
an und wollen wissen, ob ich ihnen einen Pudel verkaufe.“ Sie
hat auch eine Tochter, die zwischen so vielen Hunden aufgewachsen
ist, dass es ein Wunder ist, dass sie je lernte, sich wie
ein Mensch zu benehmen. Dafür hat Karin zahllose Champions
produziert und kann die Abstammung wirklich jedes Pudels
Deutschlands aufsagen, wenn sie nur seinen Vornamen
und sein Geburtsdatum kennt.
Überall waren Pudel in jeder Form, Farbe und Größe. Theo
und Luise verkrochen sich sofort unter der Küchenbank: Mit
all diesen fremden Hunden, von denen die meisten aussahen
wie Dolly Parton, nachdem ihr der Haarföhn durchgegangen
ist, wollten beide nichts zu tun haben.
Im Nebenzimmer wohnte ein kompletter Wurf aus zwölf dunkelbraunen,
zehn Wochen alten Pudeln mit bernsteinfarbenen
Augen, die begeistert damit beschäftigt waren, alte, vollgepieselte
Zeitungen zu zerfetzen. Bei meinem Anblick bekamen alle
einen bedürftigen Gesichtsausdruck: „Guten Tag, wir bräuchten
dringend ein Zuhause …“ An der Seite saß eine kleine,
leicht krummbeinige Hündin und sah mich auffordernd an,
machte einen Hopser und schien zu sagen: „Du brauchst noch
einen Hund.“
„Ich brauche überhaupt keinen Hund mehr, ich habe schon
drei“, sagte ich, nahm sie aber trotzdem mal heraus, nur so und
ganz unverbindlich aus rein kynologischem Interesse.
Ich war sehr beeindruckt von dem Winzling, der mit seinen
abstehenden braunen Haaren aussah wie ein Kinderstofftier,
das ein bisschen zu doll lieb gehabt worden war. Die Hündin
stapfte unerschüttert zwischen der lauten Föhnbox, in der –
übrigens völlig freiwillig bei offen stehender Tür – ein Pudel saß
und sich das Haar durcheinanderblasen ließ, riesigen aufgeplüschten
fremden Pudeln und Menschen herum. Ab und zu drehte sie sich zu mir um
und guckte mich aus ihren hellen Bernsteinaugen an: „Du brauchst
noch einen Hund, und der bin ich.“ Sie hielt diesen Tag grundsätzlich
für eine sehr gute Idee.
Irgendwie – ich weiß bis heute nicht, wie es geschah – saß
sie anschließend auf unserer Rückfahrt nach Hause dabei.
„Was ist das?“, fragte mich der Mann, als ich mit Ida auf
dem Arm zu Hause ankam.
„Ein braunes Königspudelbaby“, sagte ich stolz.
Der Mann betrachtete Ida, die krummbeinig und zerzaust
vor ihm stand und ihn interessiert ansah.
„Hm“, sagte er. „Wenn du Glück hast, wird sie mal einer.“

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Auf Idas To-do-Liste stehen nur zwei Aufgaben:
Spielen und Spielen. Was Hunde von Menschen unterscheidet
– abgesehen von der Körperbehaarung -, ist ihre absolute Hingabe
an ihre jeweilige Bestimmung. Ich wollte ursprünglich
Pianistik studieren, dann wollte ich Verhaltensforscherin werden
und wurde schließlich Journalistin, kann mich aber auch
hier nicht für ein bestimmtes Thema entscheiden. Hunde dagegen
bleiben ihrer Veranlagung immer treu. Jahre gehen ins
Land, aber Terrier werden weiterhin Gärten in Mondlandschaften
verwandeln, Beagles werden zuverlässig jeden Komposthaufen
in der Umgebung aufspüren, und Ida spielt. Den ganzen
Tag.
In ihren jugendlichen Anfängen war sie eine Art ungeschliffener
Diamant – geradezu übersprudelnd von Verheißungen,
aber noch etwas unzulänglich in ihren gesellschaftlichen Umgangsformen.
Um sich hinzulegen, hob sie einfach alle vier
Pfoten gleichzeitig und plumpste hin.
Von Futternäpfen hielt sie nicht viel: Sie räumte deren Inhalt
erst einmal aus, um dann alles vom Boden zu fressen. Sie war
auch nicht daran gewöhnt, um Möbelstücke herumzunavigieren. Wenn ich sie rief, kam sie sofort – und ich meine: sofort – und in direkter A-Linie auf mich zu, wobei sie einfach über alles, was ihr im Weg stand, drübersprang oder -kletterte: Sofas, Tische, Theo. Es kam ihr schlicht nicht in den Sinn,
außen herumzulaufen.

Ida hatte auch eine recht ungezwungene Einstellung gegenüber
fremden Sachen. Sie entpuppte sich sozusagen als die
Jennifer Lopez der Kaniden: Ursprünglich aus einfachen Verhältnissen
stammend, eignete sie sich schnell einen ganz
selbstverständlichen Geschmack für Designerartikel an. Die
pädagogisch wertvollen Hundespielsachen, die den Boden
unserer Wohnung dicht an dicht bedeckten, konnten ihr
Herz nicht erfreuen, die artgerechten Kauartikel interessierten
sie nicht. Meine Sachen gefielen ihr besser. In ihrem ersten
Lebensjahr schaffte sie es, eine Lesebrille von Dolce & Gabbana
inklusive Gläser sowie ein Paar Emma-Hope-Pumps zu zerkauen,
sie gestaltete ein Paar Miu-Miu-Schuhe zu Sandalen
um und zerlegte ein Paar sehr schöne, sehr hohe silberne
Pumps, deren Absätze sie komplett verspeiste – von den diversen
BHs, die sie, noch ungetragen und direkt aus der Tüte,
gründlich zwischen ihren Zähnen zermalmte, ganz
zu schweigen. Ihr Schönstes war es, Papier zu zerfetzen. Alte
Zeitungen, neue Manuskripte – einmal zerriss sie begeistert
einen Umschlag, in dem fünfhundert Euro waren. Leider fraß
sie die Hälfte davon auf. Ich überlegte eine Weile, ob ich sie
als Lebend-Reißwolf an Büros verleihen sollte, damit sie wenigstens
einen Teil des Geldes wieder hereinbrachte.
Reisegepäck übt auf alle Hunde eine magische Anziehungskraft
aus. Bella legte sich immer in die halb gepackten Taschen
oder Koffer hinein und schlief dort, vielleicht in der Hoffnung,
ich würde sie mit einpacken. Auch Ida war als Welpe sehr interessiert
an Gepäck – weniger an den Taschen, deren Griffe
sie jeweils eher nachlässig bekaute, sondern an den Dingen,
die man gepackt hatte. Vor allem nach Hause zurückgekehrtes
Gepäck barg alle möglichen Überraschungen – Hotelschokolade,
Flugzeugsnacks, halb gelesene Zeitschriften und Bücher,
gut vermischt mit dem Geruch gebrauchter Wäsche. Wenn ich
oder der Mann von einer Reise zurückkehrten, packte sie schon
mal aus, während wir vielleicht in der Küche einen Tee tranken
oder anderweitig Zeit verschwendeten. Ganz methodisch zerrte
sie alles aus dem Koffer und verstreute die einzelnen Teile
auf dem Fußboden, wobei sie die essbaren Dinge von den
möglicherweise essbaren Dingen trennte und alles so schnell sie
konnte auffraß. Anschließend verstreute sie die Kleidungsstücke
überall im Haus und wälzte sich in ihnen; vielleicht, um sie
mit ihrem eigenen Aroma als ihr Eigentum zu markieren.
Einmal verbrachten wir ein Wochenende in einem sehr
hübschen, kleinen Hotel auf Sylt und ließen die Hunde auf
dem Zimmer, während wir zum Essen gingen. Offensichtlich
hatten wir die Tür nicht richtig geschlossen, denn als wir zurückkamen,
lagen die Inhalte unser beider Reisetaschen über
den gesamten Flur verteilt. Nicht weit entfernt von unserem
Zimmer lag Ida tief schlafend auf dem Rücken mit dem rosa
Kinderbauch nach oben auf einem Paar Boxershorts.
Bald dachte sie, ihr Name sei „Ida-lass-das“. Sie war ein wildes
Ding, das kaum gesittet einen Fuß vor den anderen setzen
konnte, sondern wie eine zerzauste Hupfdohle neben einem
herhopste. Dabei war Ida stets blendend gelaunt und der festen Überzeugung,
die ganze Welt sei ausschließlich zu ihrem Amüsement erfunden worden.
Bis Ida etwa elf Monate alt war, konnte sie sich einfach nicht
konzentrieren, wenn man versuchte, ihr etwas beizubringen.
Sie musste immer draufspringen, reinbeißen, drum herumrennen
oder noch ganz woanders hin – „things to do, people to see, places to go“
lautete ihr Motto. Saß ich mit ihr in der Straßenbahn, kaute sie friedlich an meinem
Hosenbein. Sagte ich: „Ida, lass das!“, hörte sie auch sofort auf,
um anschließend an dem Rocksaum der Sitznachbarin zu
kauen – „Ida, lass das!“ -, danach ein bisschen am Sitzpolster – „Ida, lass das!“ -,
dann biss sie mit deutlicher Frustration („Darf man denn hier überhaupt nix?“)
ein bisschen in die Leine – „Ida, lass das!“, anschließend in Luises Ohr, was diese
schnell wegzog, und daraufhin in Theos Nase. Das setzte umgehend
eine gewaltige Ohrfeige von ihm, woraufhin gewöhnlich
bis zur Endstation Ruhe war.
Ida war grundsätzlich gut für Überraschungen. Sie geriet ständig in
Situationen, die man wirklich unter allen Umständen vermeiden
sollte, und zog mich auf direktem Wege mit hinein. Ich
hatte Ida im Januar bekommen – entgegen meiner Regel,
junge Hunde nur in warmen Sommermonaten zu
übernehmen, weil es nämlich viel einfacher ist, Welpen die
Vorzüge des Außer-Haus-Pieselns nahezubringen, wenn es
lau und angenehm draußen ist statt nass, eisig und windig -,
und sie ließ wenig aus, mich den Verstoß gegen diese kluge
Regel bitter zu bereuen.
Frühling in Hamburg ist eine zähe Angelegenheit. Nebelwände
lassen die Umrisse der Häuser verschwinden, die Kälte ist feucht,
selbst die Enten quaken missmutig vor sich hin.
Eines Nachmittags ging ich im März bei minus acht Grad und
Schnee und Eis mit meiner Freundin Laleh spazieren, einer
wunderschönen persischen Moderedakteurin, die einen gut
gelaunten Golden Retriever namens Jackson besitzt.
Jackson und Luise kannten und liebten einander seit
Teenagertagen und ließen nichts zwischen sich kommen. Ida
hopste vergnügt neben uns her, während Jackson und Luise
sich gegenseitig jagten und an den Ohren über die gefrorenen Wiesen zogen.
Nachdem Ida zum soundsovielten Mal von den beiden über
den Haufen gerannt worden war, wollte sie offenbar für ein
wenig Abstand sorgen und peste im Schweinsgalopp rechts ab
über eine Wiese. Wie eine Schildkröte, deren Tempo man ja auch immer
unterschätzt, war Ida plötzlich auf der anderen Seite eines
kleinen Sees, und als ich sie rief, rannte sie nicht etwa um den
Teich zurück zu uns, sondern hielt es für eine glänzende Idee,
den Weg abzukürzen, indem sie über die gefrorene Teichoberfläche lief.
Sie schlitterte los, völlig unbeeindruckt von meinen
lauten NEINs, ein kleiner, dunkelbrauner Hund mit abstehenden
Haaren und flatternden Ohren, der in Richtung Teichmitte
peste und mit Karacho ins Eis einbrach. Ich rannte, so
schnell es meine Gummistiefel zuließen, zum Ufer, an dem
eine Joggerin saß, mit ihrem Handy wedelte und schrie, sie
werde die Feuerwehr anrufen. Ich sah meinen zwölf Wochen
alten Welpen, der verzweifelt versuchte, sich aufs Eis hochzuziehen,
was ihm natürlich nicht gelang, und dachte, dass der junge Hund
schneller müde werden würde, als die Feuerwehr ankommen
könnte, schnell auskühlen und wahrscheinlich
ziemlich bald ertrinken würde, wenn ich nicht
bald etwas täte.
Ich zog meinen Anorak aus und watete ins Wasser, durch
das Eis, das doch nicht so dünn war, wie es gewirkt hatte.
Dafür drang das eisige Wasser sofort durch Strümpfe und Jeans,
stieg die Beine hinauf und nahm mir den Atem. Ich schob
mich wie ein prustender Eisbrecher vorwärts – und blieb stecken,
weil ich vergessen hatte, meine Gummistiefel auszuziehen.
Fünf Meter vor mir ruderte mein Hund um sein Leben,
und ich steckte im Schlamm und schaffte es auch nicht, unter
Wasser – das mir immerhin bis zur Schulter ging – die
Gummistiefel auszuziehen. Hinter mir platschte es: Laleh hatte
Anorak und Stiefel ausgezogen und drängte sich neben mir
durch Wasser und Eis, packte Ida und schleppte sie zum Ufer
zurück. Ungefähr gleichzeitig schaffte ich es, mich aus meinen
feststeckenden Gummistiefeln zu befreien.
Als wir am Ufer anlangten, hörten wir lautes Gejohle und
Applaus – von Weitem hatten uns offenbar lauter Spaziergänger
beobachtet und gratulierten uns aus der Ferne. Auf
die Idee, uns zu fragen, ob man uns irgendwo hinbringen oder
sonst irgendwie helfen könnte, kam interessanterweise niemand.
In den Zeiten von Reality-TV-Shows kommen Zuschauer
nicht mehr auf die Idee, interaktiv einzugreifen.
Wir waren ein hübscher Anblick auf unserem Heimweg.
Nicht ein, gleich drei begossene Pudel: Laleh und ich
schnatternd vor Kälte – ich auf Strümpfen, denn die Gummistiefel
steckten im schlammigen Grund des Teiches -, Ida hatte
ich in meinen Anorak eingewickelt, und Luise, Jackson und
Theo gingen trocken, aber einigermaßen verwundert hinter
uns her, weil sie die Badeaktion zu dieser Jahreszeit zu
Recht für eine Schnapsidee hielten. Lalehs Wohnung war nicht
allzu weit weg. Bis wir dort ankamen, klapperten wir so vor
Kälte, dass wir kaum noch sprechen konnten. Laleh duschte
heiß, während ich den kleinen, braunen Pudel trocken föhnte,
der schon wieder bestens gelaunt war und nicht einsah, warum
er nicht lieber mit Luise und Jackson im Wohnzimmer spielen
konnte, statt sich die Frisur richten zu lassen. „Du bist die harte
Schule des Lebens“, sagte Laleh, als sie sah, wie Ida sich wie
ein bockiges Kind drehte und wand, um dem Föhn zu entkommen.
Laleh kochte uns nach Hamburger Manier einen Tee mit
Rum, und dann kippten wir ins Bett, todmüde, und schliefen
den Schlaf der Erschöpften.
Während Bella, Luise und Theo etwa gleichzeitig mit ihrem
ersten Geburtstag eine Zen-artige Lebenshaltung einnahmen
und sich nur noch selten echte Fauxpas‘ erlaubten, erreichte
Ida diesen Zustand erst, als sie zwei Jahre alt wurde. Bis dahin
hatte ich bereits alle Hoffnung auf Besserung aufgegeben. Doch praktisch
über Nacht wurde Ida dann doch zum Menschen, oder besser noch:
zum erwachsenen Pudel – klug, friedlich, charmant und wahnsinnig
komisch. Sie ist nicht so schön wie Luise. Sie ist nicht
so groß, ihre Augen sind nicht mandelförmig, ihre Beine sind
nicht so gerade, wie sie sein sollten: Von hinten sieht sie ein
bisschen aus, als mache sie ein Demi-plié; – aber sie hat einen
unglaublichen, unwiderstehlichen Charme.
„Wenn Luise die Callas ist, ist Ida eher ein polnischer Schlagerstar“,
sagt der Mann. „Voller Hurra, die personifizierte gute
Laune. Auf dem Weg zum Grand Prix d’Eurovision.“

Elbstrand

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