Verschwommene Sichtweise

bildvom 1. Juli 2012

Kinder haben genug Zeit, ein bisschen genauer hinzusehen, deshalb erfahren sie oft mehr Geheimnisse von Hunden als Erwachsene. Als ich klein war, hatte meine Großmutter Dackel, die zwar von Kindern nicht viel hielten, mir aber viel über Hunde beibrachten. Zum Beispiel merkte ich bald, dass Hunde nicht gerne Schwäche zeigen. Hunde lassen einen alles Mögliche sehen – ihre Angst vor Gewittern, Staubsaugern oder Silvesterknallern. Dagegen können Hunde nichts tun, solche Geräusche sind eben unangenehm. Aber Schwäche ist etwas, was sie verstecken.
Ich weiß noch, wie der Dackel Bauzi auf einem Liegestuhl auf der Terrasse schlief. Beim Umdrehen plumpste sie vom Liegestuhl in einen Strauch mit Dornen. Alle lachten sich kaputt, aber Bauzi hopste gesenkten Blickes davon, als wäre nichts gewesen. Es war aber was, und ich pulte ihr stundenlang die Stacheln aus dem Fell. Sie hätte das nie zugegeben.
Ich dachte damals, es müsse wohl ein Instinkt aus alten Zeiten sein. Also, im Falle dass ein Raubtier, ein Wolf oder ein Monster in der Nähe herumspaziert, wollen Hunde nicht so aussehen, als seien sie das schwächste Glied in der Nahrungskette: „Nö, wieso? Mir geht’s super! Such‘ dir eine leichtere Beute!“ Vielleicht verschwieg der andere, alte Dackel Ammi deshalb auch, dass ihre Augen ziemlich schlecht waren. Sie saß stundenlang in der Ecke und starrte die Wand an – nicht, weil sie deprimiert war und alleine sein wollte oder sich selbst für etwas bestrafte, was noch gar keiner bemerkt hatte. Es war nur so: Bis sie endlich verstanden hatte, dass da vor ihr gar keine Tür war, hatte sie einfach keine Lust mehr aufzustehen.
Ammi freute sich auch immer wie wahnsinnig, wenn sie die Nachbarin auf der Straße traf. Sie mochte sie wirklich, keine Frage, und die Nachbarin freute sich auch immer so, dass Ammi sich so freute und so furchtbar wedelte, dass ihr ganzer Körper wackelte. In Wahrheit sah aber die Handtasche dieser Dame von Weitem aus wie ein Pudel an der Leine. Bis Ammi ihren Irrtum bemerkte, war ihr das Ganze so peinlich, dass sie weiter wedelte, um die Nachbarin nicht zu enttäuschen.
Vor ein paar Jahren wurde mein alter Mops Theo langsam ziemlich blind. Auch er hätte das niemals zugegeben, schon weil er der Meinung war, die um ca. 45 cm höheren Pudeldamen in seinem Rudel bedürften seines persönlichen Schutzes. Als er eines Tages auf der Straße den ziemlich unfreundlichen Schäferhund eines Nachbarn auf der Straße bellen hörte, schoß er in die Richtung los, aus der das Gebell kam, und warf sich dem grölenden Vieh direkt ins offene Maul. Der Schäferhund war so perplex, dass er den kleinen Mops sofort wieder ausspuckte. Ich bin ziemlich sicher, dass Theo ganz gut wusste, dass diese Aktion nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Er wollte nur nicht, dass ich nach all‘ den Jahren irgendwie schlecht von ihm dächte.

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