Wildschwein gehabt!

bildvom 7.11.2010

Berlin ist ein Dschungel. Nicht aus den Gründen, die Sie jetzt vermuten, sondern vor allem, weil das Wild hartnäckig dabei ist, Berlin zu erobern: In Berlins Stadtkern gibt es 1600 Füchse und 150 Waschbären-Paare, ganz zu schweigen von den Wildschweinen – um die 5000 leben in der Stadt. Sie sind dabei kein bisschen leise, scheu oder zurückhaltend – echte Berliner eben, die sich buchstäblich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie spazieren in großen Rotten über Parkplätze und untersuchen alles, was ihnen Essbar vorkommt, inklusive sehr kleiner Hunde und Babytragetaschen; sie leeren Mülleimer aus, rennen über Marktplätze, und im Winter legen sie sich gemütlich auf die warme Stadtautobahn und legen stundenweise den Verkehr lahm. In Charlottenburg sehen Parks und Gartenanlagen wie Mondlandschaften aus, und der alte Trick, Menschen- oder Hundehaare auszulegen, weil Wildschweine sich davor fürchten, lockt die Schweine in Berlin erst recht an, weil sie längst gelernt haben, Menschen als Futterspender zu sehen. Wenn man im Grunewald mit den Hunden spazieren geht, steht plötzlich mitten auf dem Weg ein gewaltiger Keiler, lässt seine langen Eckzähne in Richtung Hund blitzen und macht keinerlei Absichten, sich zu trollen: erst muss er die Erdnußflips fressen, die irgendjemand hat fallen lassen – wahrscheinlich vor Schreck, als er Wildschweine im Unterholz auf sich zukommen sah. Weil Wildschweine futterneidisch sind, werden sie angesichts von Eßbarem zur ernsthaften Gefahr für Hunde, allerdings auch, wenn es statt Erdnußflips nur Borkenkäferraupen, Eicheln, Engerlinge, Wurzeln, Schnecken oder Würmer gibt – Dinge also, die ihnen kein vernünftiger Hund streitig macht. Aber mit Wildschweinen kann man nicht diskutieren. Grundsätzlich sind sie nicht aggressiv, außer, sie fühlen sich bedroht z.B. von einem erschrocken bellenden Hund -, oder sie haben Frischlinge. In Berlin haben sie aufgrund der sensationellen Nahrungssituation allerdings das ganze Jahr Frischlinge und werden auch schon mit 9 Monaten geschlechtsreif.
Eines sehr frühen Sonntagmorgens ging ich im Glienicker Volkspark spazieren und freute mich gerade darüber, wie unglaublich still es war, als ich hinter mir ein Rascheln hörte: Da stand eine Rotte aus etwa sechs erwachsenen und vielleicht zehn Jungschweinen wie eine Gang in der Bronx. Regel Nr. 1 im Umgang mit bedrohlich aussehenden Wildschweinen, Hunden oder Jugendlichen lautet: Nie zeigen, dass man Angst hat, sondern Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen. Ich pfiff daraufhin „Hip Hip Hurra“ von den Ärzten, um Gelassenheit auszustrahlen, weil ich fand, der Text („alles ist super, alles ist wunderbar“) würde Unverfänglichkeit vermitteln, als mein damals knapp fünf Monate altes Windspiel Harry, der figürlich wie ein Windhauch aussah, sich ans eine Beschützerrolle erinnerte und kreischend auf die Wildschweine zuraste. Die Schweine hopsten irritiert zur Seite, bis man geradezu SEHEN konnte, wie sie dachten: „Moment mal – der kleine Furz?“, und in einem Bogen auf mich zugeschossen kamen. Ich vergaß für einen Moment das Gebot der Ruhe und Gelassenheit und nahm die Beine in die Hand, mein damals noch lebender, steinalter und fast blinder Mops Theo flog an der Leine hinter mir her wie ein selbstgebastelter Drachen. Plötzlich kam mein schwarzer Pudel Luise aus dem Gebüsch, wo sie sich privaten Dingen gewidmet hatte, woraufhin die Wildschweine die Flucht ergriffen: Einen Hund mit so einer Frisur hatten sie wohl noch nie gesehen.
Ich finde ja, Berliner Schulkinder sollten anstatt Lesen und Schreiben erst einmal lernen, wie man sich angesichts einer Wildschweinrotte verhält. In Berlin herrschen nun mal andere Gesetze.

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