Jingle-Bellen

Zu keiner Zeit im Jahr besinnen wir uns stärker auf Traditionen, Bräuche und Werte als zu Weihnachten. Es riecht nach Orange, Zimt und Sternanis, man gönnt sich kleine Auszeiten mit Keksen und Punsch, Kinder besingen mehr oder weniger schief, auf jeden Fall aber leidenschaftlich die Erhabenheit dieser Zeit, die uns den Alltag vergessen lässt, weil man noch so unglaublich viel erledigen muss.
Am Morgen des 26. ist man dann vollkommen erledigt von dem ganzen Geweihnachte. Es ist auch nicht leicht, die festliche Stimmung zu bewahren, wenn man praktisch den gesamten Heilig Abend und den halben 1. Weihnachtsfeiertag mit einem Schraubenzieher in der Hand versucht, ein Super-High-Tech Lego-Spielzeug für den sechsjährigen Neffen zusammen zu bauen. Offenbar kann man die Aufgabe, dieses Spielzeug zusammen zu bauen, eigentlich nur mit einem abgeschlossenen Ingenieurs-Studium bewältigen, denn es bestand aus mehr Teilen als ein durchschnittliches NASA-Raumschiff. Die Bauanleitung war ganz sicher von Technikern einer fremden Galaxie geschrieben worden.
Als ich fast fertig war, fehlte das Teil Nr. 3047 d, weshalb das ganze Spielzeug nicht funktionieren konnte. Die Stimmung ging schnurstracks in den Keller; schließlich wurde der allerkleinste anwesende Hund beschuldigt, das Teil geschluckt zu haben, nachdem er auch schon nachweislich die Zehen der Japan-Barbie der fünfjährigen Nichte angenagt hatte. Die Japan-Barbie ist die heißeste Barbie der Saison, das Must-Have für jedes keine Mädchen der westlichen Hemisphäre. Die Firma Mattel, in deren Geschäftsleitung offensichtlich bösartige kleine Trollen sitzen, hat besagte Barbie aber nur als limitierte Auflage herausgebracht, weshalb man sozusagen Beziehungen beim Vatikan UND bei der amerikanischen Regierung haben muss, um die rotgewandete Geisha käuflich erwerben zu können. Und die Zehen dieses Heiligtums fielen dem kleinsten aller Hunde zum Opfer, im Grunde ein Bonsai-Hund, der eigentlich besonders gut zur Japan-Barbie passte. Nicht so schlimm, sollte man meinen, weil verkümmerte Füße einer Geisha eigentlich besonders authentisch waren, aber der Stimmung des fünfjährigen Kindes half dies irgendwie nicht weiter. Auch nicht, als ich mehrfach versuchte, meine Familie daran zu erinnern, dass es an Weihnachten doch nicht um materielle Dinge ginge, sondern um das familiäre Zusammensein. „“Ich hasse Hunde!“ heulte meine Nichte, und als ich mich hilfesuchend umsah nach moralischer Unterstützung und Protest, senkten alle anderen ihre Nasen tiefer in ihre Bücher oder was sie sonst so bekommen hatten.
Meine Hunde haben sich in den vergangenen dreißig Jahren an Weihnachten jeweils wenig beliebt gemacht. Letztes Jahr fraß Fritz am Morgen des 24. ein halbes Roastbeef, das meine Mutter zum Auskühlen vor das niedrige Speisekammerfenster gestellt hatte – irgendjemand hatte die Tür offen gelassen, und Fritz, entzückt über die festliche Aufmerksamkeit, zögerte nicht lange. In einem der Jahre davor schaffte es meine Pudelhündin Luise in einem unbeachteten Moment, ein Kilo Weihnachtskekse zu fressen, während die Familie beim Weihnachtsessen war. Meine Mutter – der wirklich das Hundeverdienstkreuz zusteht – tobte, während ich die Nacht im Nachthemd mit Luise im weihnachtlich verschneiten Garten verbrachte auf der Suche nach Grashalmen, die ihr Bauchgrimmen lindern sollte. Das war allerdings noch nichts gegen meinen Hund aus Teenagerzeiten, der erst das gesamte, sorgfältig angerichtete Fondue-Fleisch fraß und in der Zwischenzeit, während meine Mutter verzweifelt versuchte, irgendwie ein Alternativ-Weihnachtsessen für die Familie auf die Beine zu stellen, zum Nachtisch die Weihnachtskekse verspeiste.
Insofern wäre es mehr als merkwürdig, wenn einer meiner Hunde diesen alten Brauch ignorieren würde.

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bildvom 26.12.2010

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